„Ich bin ein Fremder gewesen
und ihr habt mich aufgenommen.“
Mt 25,35.
Das war die Kernmotivation, als am 22. April 1995 nach einem Informationsgespräch das Presbyterium der Evangelischen Kirchengemeinde Schlebusch einstimmig beschloss, dem Wunsch der Familie Mehmet Sülen – Vater, Mutter und drei Kinder zwischen drei und sechs Jahren – zu entsprechen und Kirchenasyl in unserem Gemeindehaus Schlebusch zu gewähren. „Mindestens so lange, bis das Asylverfahren entschieden ist“, welches damals anhängig war. Dies dauerte letztendlich bis zum Beginn des Jahres 1996.
1988 war Mehmet Sülen, türkischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volkszugehörigkeit, mit seiner Frau Songül aus der Türkei nach Deutschland geflüchtet, nachdem er Kenntnis von seiner Verurteilung während seiner Tätigkeit in der Stadtverwaltung Batman/Osttürkei bekommen hatte. Vorher war er in Zusammenhang mit seiner Gewerkschaftsarbeit mehrfach kurz inhaftiert und gefoltert worden. Er wurde in Deutschland der Stadt Günzburg/Bayern zugeteilt und hat dort mehrere Jahre als Krankenpfleger gearbeitet.
Familie Sülen flüchtete mit ihren in Bayern geborenen drei Kindern am 10. April 1995 erneut. Diesmal von Bayern nach NRW. Und nach erfolgloser Ausschöpfung der Rechtsmittel eines Asylfolgeantrages. Unterstützt vom „Ökumenisches Netzwerk Asyl in der Kirche“ und nach dem Presbyteriumsbeschluss kommt die ganze Familie schnell zu uns nach Schlebusch ins Gemeindehaus.
Die Resonanz in unserer Gemeinde war groß! Viele beteiligten sich, unterstützten mit Geld- und Sachspenden. Jede Nacht gab es in der Anfangszeit eine Nachtwache, durchgeführt von Gemeindemitgliedern, von volljährigen ejs-Mitarbeiter*innen bis hin zu Gemeindegliedern aller Altersgruppen! Das Landeskirchenamt der EKiR und die lokalen politischen Parteien unterstützten ebenfalls.
Doch immer wieder gab es neue Hindernisse und eine Abschiebung drohte. Konfirmand*innen sammelten Unterschriften gegen die Abschiebung, Ärzte behandelten die Familienmitglieder entweder kostenlos oder gegen „kleines Honorar“ aus Spenden eines eigens dafür eingerichteten „Gemeindetopfes“.
Die Zeitungen berichteten über die Monate ständig über jede Veränderung, jeden Rückschlag, über neue Dokumente aus der Türkei, Folgeanträge und Aussichten. Auf Initiative unserer Kirchengemeinde, gemeinsam mit den Leverkusener Parteien, erfolgte am 10. Juli 1995 ein Ratsbeschluss, im Falle einer Umverteilung von Bayern nach NRW die Familie in unserer Stadt offiziell aufzunehmen. Ein weiterer „Meilenstein“. Nicht der Letzte!
Es wurde schließlich eine umfangreiche Herausforderung über mehr als neun Monate für unsere Kirchengemeinde, für die Anwälte und für Familie Sülen in „ihrem Kirchenasylraum“, auf 35 Quadratmetern im Obergeschoss unseres Gemeindehauses.
„Kirchenasyl“ war damals und ist bis heute die durch christliche Gemeinden gewährte, vorübergehende Zuflucht für menschenrechtswidrig Verfolgte, wenn man nach sorgfältiger Recherche zu dem Ergebnis gekommen ist, dass in überschaubarer Zeit eine Revision einer staatlichen Entscheidung im Bereich der Wahrscheinlichkeit liegt. Sogenanntes Kirchenasyl heute ist somit keine Stellungnahme gegen unseren Staat, sondern „es stellt einen nötigen Beitrag zum Rechtsfrieden dar“ sagte Wolfgang Huber in der SZ vom 16. Januar 1995, S. 6.
Heute lebt die Familie immer noch in Leverkusen und die drei Kinder sind Erwachsene, gut integrierte Mitbürger*innen. Der unfassbar große Aufwand und die Fürsorge haben sich gelohnt und Agit Sülen sagte mir im Mai 2020: „Wir alle sind euch heute noch sehr dankbar für das, was ihr für uns getan habt. Dieser Lebensabschnitt war entscheidend für unser heutiges Leben!“1)
Wer gerne mehr wissen möchte über diese bewegenden neun Gemeindemonate, der findet Material im Internet unter kircheschlebusch.de und ejs.de
Stefan Lapke, (auch schon 1995) – Jugendreferent der ejs
Fußnote:
Zur Zeit des Zitats in der Süddeutschen Zeitung war Wolfgang Huber Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz, 2003-2009 war er Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland.